und ist der Schlüssel zum Meistern unserer Gedanken und Gefühle.
Erschienen als Artikel in "VISIONEN" (von Regina Bönsel), download des Originals hier.
Die Schulung des Atems –
Pranayama – ist das vierte Glied
oder Element des Yoga und
spielt eine wesentliche Rolle
bei der Befriedung und Klärung
des Geistes. Achtsamkeit und
Gewahrsein nach innen und nach
außen werden durch die yogischen
Atemtechniken erhöht.
Yoga ist das weltälteste System, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Es umfasst alle Aspekte des Lebens: Disziplin, Beherrschung der Sinne, Körperstellungen, Atemkontrolle, Rückzug der Sinne, Konzentration auf den Wesenskern, Meditation und Selbsterkenntnis. In den berühmten Yoga-Sutras des Patanjali wird Yoga in acht Glieder unterteilt. Jedes dieser acht Glieder baut auf das jeweils vorherige Glied auf. Nach dem indischen Zahlwort für Acht wird es deshalb auch Ashtanga-Yoga genannt. Das vierte Glied des Ashtanga-Yoga sind die Pranayama, die Atemübungen. Bei ihnen geht es darum, mit Hilfe des Atems Körper und Geist – damit sind die Gedanken und Gefühle gemeint – in Einklang zu bringen. Mit diesem vierten Pfad (Pranayama) wollen wir uns im Folgenden beschäftigen.
Wandlung der Gefühle
Atem ist Leben. Mit dem ersten Atemzug kommen wir in diese Welt, und mit dem letzten Atemzug gehen wir von dieser Welt. Durch alles, was uns im Leben widerfährt, trägt uns der Atem hindurch. Jeder Gedanke bringt ein bestimmtes Gefühl hervor, und dieses spiegelt sich in unserem Atemrhythmus wider und wird damit auch auf körperlicher Ebene wahrnehmbar. Achtsamkeit ist der erste Schritt und die Voraussetzung, um Gewahrsein zu schulen. Das Gewahrsein ermöglicht uns einen gesunden Abstand zum Ereignis und beeinflusst somit ganz wesentlich die Art und Weise, wie wir die Situation erleben. Durch Distanzierung zum Ereignis werden wir zum Beobachter und mit dieser Haltung nehmen wir wahr, was in uns vorgeht. Wir sind uns gewahr, wer das Ereignis erlebt; wer „gut“ oder „schlecht“, „richtig“ oder „falsch“ sagt, wer sich angenehm oder unangenehm betroffen fühlt. Nämlich „ich“, die Persönlichkeit, also mithin das Ego. Mit dem Atem können wir Einfluss auf unsere Empfindungen nehmen, statt nur reflexartig auf unsere Gedanken, Stimmungen und vielleicht sogar Schmerzen zu reagieren. Gewahrsein ist die Methode; der Atem mit seiner Lebensenergie, dem Prana, ist das Werkzeug.
„Wenn der Atem wandert, dann ist der Geist unruhig.
Aber wenn der Atem still ist, ist es auch der Geist.“
(Hatha Yoga Pradipika)
Energie aus dem Atem
Die Schulung der Achtsamkeit ist ein natürliches Ergebnis der Yoga-Praxis, zu der wie gesagt Pranayama (Atemübungen) gehören. Pranayama erfüllen zwei Hauptfunktionen: Zum einen bringen sie mehr Sauerstoff ins Blut und somit ins Hirn, und zum anderen wird die Lebensenergie, das Prana, angehoben, das vor allem für das Meistern der Gefühle und Gedanken benötigt wird. Immer dann, wenn wir wenig Energie in uns haben, kreisen unsere Gedanken um das Negative und unser Wesen wird davon beherrscht, so dass wir uns übermäßig Sorgen machen. Um dieser Abwärtsspirale entkommen zu können, müssen wir unser Energieniveau anheben. Atemübungen bringen uns leicht aus jedem emotionalen und mentalen Tief und lassen uns die Erfahrung von geistiger Klarheit und innerer Weite machen.
Dem Menschen stehen vier Energiequellen zur Verfügung: Nahrung, Schlaf, Atem und Meditation. Leider lernen wir nichts über sie und halten sie für selbstverständlich, denn normalerweise läuft alles reibungslos. Erst wenn gesundheitliche Probleme auftreten, beginnen wir uns mit vegetarischer Ernährung und einer gesünderen Lebensweise zu befassen, und manch einer beginnt mit Yoga und Meditation. Der Atem jedoch wird auch dann noch nicht einbezogen. Dabei ist es so offensichtlich: Wie lange kommen wir ohne Nahrung aus? Ohne Schlaf? Ohne Atem? Also...
Klassische Pranayama-Techniken
Pranayama bestehen aus vier Phasen: der Phase des Ausatmens (recaka), mit der wir beginnen, gefolgt von der Phase des Einatmens (puraka) und der Atemleere jeweils dazwischen, in der wir den Atem anhalten. Die Atemleere nach dem Einatmen dient dazu, das aufgenommene Prana in uns zirkulieren zu lassen. Die Atemleere nach dem Ausatmen dient dazu, Stoffwechsel-Endprodukte über den Atem auszuscheiden. Die Ausatmung ist immer länger als die Einatmung, meistens in einem Zahlenverhältnis von 3:2. Um den Atem zu verfeinern, wendet man die Ujjayi-Atmung an; sie lässt uns mehr Sauerstoff und Prana aufnehmen und gleichzeitig durch die Verlangsamung des Atems mehr Kohlendioxyd ausatmen.
Die acht klassischen Pranayama sind:
Surya bhedana, Ujjayi-Atmung, Sitkarin, Sitali, Bhastrika, Bhramari, Murccha und Plavini.
Im Westen werden am häufigsten die folgenden Atemtechniken praktiziert:
- Ujjayi-Atmung: Sie stärkt unser Nerven- und Verdauungssystem und versorgt uns mit viel Prana. Die Ujjayi-Atmung entsteht, indem wir eine Verengung im Rachenraum entstehen lassen. Dadurch wird der Atem langgezogen, was sich positiv auf unser Gemüt auswirkt.
- Bhastrika: Sie ist eine sehr kraftvolle Atmung. Es wird durch die Nase dynamisch ein- und ausgeatmet, daher auch ihr Name „Blasebalg“. Sie ist das beste Pranayama für das Nerven- und Gefäßsystem. In ihrer Wirkung ist sie sehr erfrischend und belebend für den Geist.
- Bhramari: Die Einatmung kann etwas holprig bis ungestüm sein und bringt den Summton einer Biene hervor, die Ausatmung ist langsam, der Summton wird beibehalten. Diese Übung wirkt sehr erheiternd bis beseelend.
- Nadi Shodana: Dies ist die Wechselatmung, bei der abwechselnd durch das linke und rechte Nasenloch ein- und ausgeatmet wird, während die andere Seite verschlossen wird. Sie wirkt auf die rechte und linke Hirnhälfte.
Gegensteuern bevor wir ausrasten
„Wenn ich meine Gefühle besser unter Kontrolle gehabt hätte, wäre mir das nie passiert.“ So hören es oft die „Kunst des Lebens“-Kursleiter von Strafgefangenen, wenn sie spezielle Gefängniskurse anbieten. In der Strafvollzugsanstalt wird offenkundig, dass es die Intensität der Gefühle war, die den Verstand der hier einsitzenden Menschen zeitweise ausgeschaltet hat.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Gurudev Sri Sri Ravi Shankar, nachdem er Tihar, eines der größten Gefängnisse in Delhi, Nordindien, besucht hatte. Er sprach von der Authentizität der Gefühle, denen die Menschen generell unterlagen, nicht nur Verbrecher oder Gewalttäter. Was die Gefängnisinsassen von den meisten anderen Menschen unterscheide, sei die mangelnde Kontrolle über ihre intensiven Gefühle, von denen sie buchstäblich überrollt würden. Als Konsequenz setze jegliche Ethik und Moral aus. – Für mich war das sehr aufschlussreich, denn nur zu oft hatte ich bei mir und anderen erfahren, wie ein Sturm der Gefühle die Handlung eines Menschen nachteilig verändern kann. Bewusstes Atmen beugt vor, weil wir gegensteuern können, bevor wir ausrasten. Der Atem versorgt uns mit Lebensenergie und diese Energie transformiert negative Gefühle. Er löst sie auf, so wie Dunkelheit sich durch Licht auflöst.
Konzentration auf den Wendepunkt
Schon bei kleinen Alltagsdingen können wir unseren Atem bewusst einsetzen, um die täglichen kleinen Herausforderungen unseres Lebens besser zu meistern. Das fängt schon bei der ebenso simplen wie hilfreichen Übung an, einfach mal auf den eigenen Atem zu achten. Wenn wir das tun, atmen wir automatisch erst einmal ein. Je nachdem, wie schnell das Ausatmen folgt, erkennen wir, ob wir uns mit ein paar bewusst langsamen Atemzügen wieder zur Ruhe bringen müssen. Am besten geht das mit Abzählen der Atemzüge. Je nachdem, wie schnell oder langsam wir zählen, hat unser Atem eine beruhigende oder aber eine energetisierende Wirkung. Zur Beruhigung probieren Sie, 10 Mal hintereinander beim Einatmen auf 4 zu zählen, dann den Atem bis 4 anzuhalten und dann auf 6 auszuatmen. Fertig? Prima!
Was genau ist jetzt aus spiritueller Sicht geschehen? Gurudev Sri Sri Ravi Shankar erklärt das so: „Der Augenblick nach dem Einatmen, genau dann, bevor wir ausatmen, ist Apana. Der Moment kurz bevor wir nach dem Ausatmen wieder einatmen, ist Prana. Die Konzentration auf genau diesen Wendepunkt beruhigt den Geist.“ Apana ist ein Begriff aus dem Sanskrit und beschreibt die herausfließende Energie, während Prana die einströmende Energie beschreibt, die im Deutschen am ehesten mit dem Begriff Odem wiedergegeben werden kann. Er führt weiter aus: „Unser Atem birgt ein Geheimnis. Mit Hilfe von Atemübungen und Meditation können wir in uns und auch in unserer Umgebung positive Schwingungen erzeugen. Ist euch aufgefallen, dass es euch manchmal einfach danach ist, mit bestimmten Menschen zu sprechen, dass ihr aber andere zu meiden versucht? Wir vermitteln mehr über unsere Ausstrahlung als über das, was wir sagen. Wenn wir verkrampft, verärgert oder gestresst sind, macht uns das abstoßend. Wie also kommen diese negativen Schwingungen in unsere Aura? All das Schlechte, das wir gesehen und gehört haben, speichern wir dort.
Genau aus diesem Grund sind Atemtechniken so sinnvoll. Unser Geist tendiert zur Negativität. Wenn zehn Menschen unsere Arbeit loben und ein elfter einen Einwand hat, bleibt bei uns nur diese Kritik haften und wir können uns über die anderen zehn nicht mehr freuen. Wir blockieren dadurch unsere Energie und können nicht die Leistung erbringen, die wir uns wünschen. Mit Atemübungen können wir uns von emotionalem Ballast befreien. Sie wirken also viel mehr in unser Leben hinein, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Je mehr man auf dem spirituellen Pfad voranschreitet, desto mehr erkennt man, wie alles miteinander zusammenhängt.
„Der Geist ist vergleichbar mit einem Drachen, und derAtem ist die Drachenschnur.
Je länger die Drachenschnur, desto höher kann der Drachen steigen.
Der Atem ist dieVerbindung zwischen der inneren Welt der Stille
und der äußeren Welt des Handelns.“
(Gurudev Sri Sri Ravi Shankar)
Frieden in der Welt durch Yoga
In unserer schnelllebigen Zeit hilft Yoga mit seiner zeitüberdauernden Botschaft und seinen über Jahrtausende erprobten Techniken zur Besänftigung des Geistes mehr denn je. Die Zukunft einer humaneren Gesellschaft hat ihre Wurzeln im Yoga. Es gibt nur zwei Feinde des Menschen, so Gurudev Sri Sri Ravi Shankar. Es sind zum einen der Stress und zum anderen die falschen Identifikationen, die unser Leben überschatten.
- Stress – in Form von körperlichen Verspannungen, emotionalem Unbehagen oder Druck, depressiven Verstimmungen u.a. – kann durch Yoga, Atemübungen und Meditation leicht und nachhaltig aufgelöst werden. Stress entsteht vereinfacht ausgedrückt, wenn unser Körper woanders ist als unser Geist. Wovon fühlen wir uns am meisten gegängelt? Von unserem eigenen Geist. Vom ständigen Wechsel der Stimmungen, die andauernd pendeln zwischen Vergangenem und Zukünftigem, zwischen sich sorgen, ängstigen, hoffen oder bangen und der tiefen Sehnsucht nach Beständigkeit. Dabei ist nichts beständiger als der Wandel. Der Yogi hingegen ist fest gegründet im Sein, er weiß um den stetigen Wandel der äußeren Welt und spürt die positiven Auswirkungen durch die eigene Yoga-Praxis, allen voran Vertrauen, Zuversicht und eine Verbundenheit mit allem Lebendigen.
- Begrenzte Sichtweisen oder Identifikationen mit einer Kultur, Religion oder Tradition sorgen für Konfliktstoff in einer globalisierten Welt und bieten letztlich den Nährboden für Fanatismus.
Wenn wir selbst friedfertiger werden, spiegelt sich das unmittelbar in unserem gesamten Ausdruck wider – in unserem Denken, Fühlen und Handeln. Es wirkt nachhaltig im Umgang mit unseren Mitmenschen und somit in die Gesellschaft hinein, letztendlich in die ganze Welt. Schließlich atmen wir alle dieselbe Luft ein!
Regina Bönsel & Birgit Addou
Regina Bönsel ist langjährige Schülerin von Gurudev Sri Sri Ravi Shankar, dem sie erstmals 1987 in Marburg begegnete. Seit 1991 ist sie autorisierte Kursleiterin der Organisation „Die Kunst des Lebens Deutschland e.V.“, hauptberuflich seit 1997. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt/Main.