F.: Wenn Gott allgegenwärtig ist, und man eine starke Verbindung zum Guru wahrnimmt, ist es dann immer noch notwendig, einen Tempel zu besuchen? Was ist die Bedeutung von Ritualen?
Gurudev Sri Sri Ravi Shankar: Schau, du musst nicht in einen Tempel, in eine Moschee oder in eine Kirche gehen. Du kannst überall wo du bist meditieren und wirst die Gegenwart des Göttlichen wahrnehmen. Aber es ist gut, Rituale im Leben zu haben, wenn auch nicht allzu viele.
Ohne Rituale wird das Leben trocken und monoton. Es sind die Rituale, die eine gewisse Würze, eine gewisse Feierlichkeit und eine gewisse Farbe ins Leben bringen. Also würde ich sagen, dass wir von Zeit zu Zeit Rituale zelebrieren sollten. Das ist gut.
Du wirst den Unterschied in der Atmosphäre feststellen können, wenn du zuerst in ein Haus gehst, in dem keinerlei Rituale stattfinden, und dann in ein anderes Haus, wo jeden Tag eine Lampe oder ein Räucherstäbchen angezündet wird, und wo Heiligkeit vorhanden ist.
Rituale bewirken einen gewissen Unterschied. Sie erschaffen eine besondere Art von Atmosphäre. Das Feinstoffliche wird an solchen Orten lebendiger, nicht wahr?
Ein paar Rituale bereichern also das tägliche Leben.
Du solltest am Morgen, wenn du aufwachst, Atemübungen machen und meditieren.
Es reicht, wenn nur einer der Hausbewohner irgendwo im Haus eine Lampe anzündet, um die ganze Atmosphäre anzuheben. Das ist es, was ich in der Praxis festgestellt habe.
Ich habe so viele Häuser besucht: Kleine und große Häuser, Hütten und Bungalows. Etwas ist sicher: War ein kleiner Altar, eine Kerze oder sonst irgendetwas dieser Art vorhanden, dann bekam die ganze Atmosphäre etwas Subtiles, etwas Schönes, auch wenn es sich nur um eine kleine Hütte handelte. War jedoch in einem Haus überhaupt nichts vorhanden, kein Symbol der Heiligkeit oder keine Lampen, die erleuchtet wurden, dann war eine gewisse Dumpfheit festzustellen.
Jede Person im Haus kann sich darum kümmern, sei es der Ehemann oder die Ehefrau. Auch für die Kinder ist es gut, wenn sie sehen, dass etwas getan wird, um den Geschmack von Religiosität oder Spiritualität zu erfahren.
In Indien geschieht es sogar in Bussen. Jeder Busfahrer, Taxifahrer oder Rickshawfahrer wird am Morgen eine kleine Blume hinlegen, ein Räucherstäbchen anzünden und sich verbeugen. Dieses kleine Ritual bewirkt einen qualitativen Unterschied im Leben dieser Menschen. Auch in Läden und Hotels ist in Indien ein Altar vorhanden.
Du kannst die Menschen fragen, warum sie das tun. Vielleicht kann jemand eine Untersuchung darüber machen. Ich empfinde, dass es den Menschen eine Art psychologische Kraft gibt und die Atmosphäre feinstofflich anhebt.
Auch in den Büros der Regierung finden solche Rituale statt. Jeder Beamte hat einen Altar in seinem Büro. In Karnataka wird damit schon fast ein wenig übertrieben. Wenn der Ministerpräsident einen Eid ablegen muss oder in ein neues Büro einzieht, wird eine gründliche Puja zelebriert mit allem Drum und Dran.
Wir können das auf der ganzen Welt finden. Selbst im Senat der Vereinigten Staaten und im kanadischen Parlament werden täglich ein paar Minuten für das Gebet reserviert. Es gibt einen Pastor für jedes Parlament, der kommt und aus der heiligen Bibel vorliest.
Nur in Indien wird dauernd über Säkularismus gesprochen. Der Versuch, alle Weisheit, alles Wissen und die alten Traditionen von sich fernzuhalten, ist eine Art von Krankheit. Die Menschen versuchen, das zu tun, aber es funktioniert nicht wirklich, weil es tief in jedem Menschen verankert ist.
F.: Gurudev, welches ist der beste Weg, mit jeder Art von Ungerechtigkeit umzugehen?
Gurudev Sri Sri Ravi Shankar: Manchmal empfindest du etwas als ungerecht, was es vom Gesichtspunkt der anderen Person aus nicht ist. Es ist möglicherweise gar keine Ungerechtigkeit.
Du musst dich gegen Ungerechtigkeit erheben, aber mit Weisheit und Bewusstsein, denn jeder, der verärgert oder wütend ist, wird immer behaupten, er wehre sich gegen Ungerechtigkeit.
Hinter der Flamme der Wut verbirgt sich ein Schrei nach Gerechtigkeit, das Verlangen nach Gerechtigkeit.
Wenn du es aber analysierst und tief in die Sache eintauchst, mag es sein, dass deine Sicht gar nicht korrekt ist. Sie ist vielleicht überhaupt nicht richtig.
Deshalb empfehle ich dir, die Angelegenheit zuerst aus einem ruhigen Geist heraus zu analysieren und erst dann etwas gegen die Ungerechtigkeit zu unternehmen.
F.: Gurudev, es heißt, Enthaltsamkeit sei ein wichtiger Aspekt für den Fortschritt auf dem spirituellen Pfad. Wie kann man Enthaltsamkeit in den Geist bringen? Ist Enthaltsamkeit etwas Physisches oder eher etwas, was sich im Geist abspielt?
Gurudev Sri Sri Ravi Shankar: Beides. Enthaltsamkeit geschieht, du kannst sie dir nicht aufzwingen. Wenn du zum Beispiel Examen hast und dafür lernst, wirst du während der ganzen Zeit nicht an Sexualität denken, weil du zu beschäftigt bist.
Ähnlich ist es, wenn du an einem wichtigen Projekt arbeitest und viel zu tun hast. Dann kommt es automatisch zur Enthaltsamkeit.
Meditation führt ebenfalls dazu. Wenn die Energie in dir aufsteigt, erlebst du eine solche Glückseligkeit, Erregtheit und Ekstase, dass Enthaltsamkeit sich von alleine einstellt. Es wird sogar zur Qual, nach außen zu gehen. Bei der Enthaltsamkeit richtet sich der Geist nach innen, und du erkennst, dass das alles nichts ist. Alles ist nichts.
Wenn überhaupt etwas geschieht, geschieht es von der feinstofflichen Ebene aus.
Die Verbindung mit der feinstofflichen Ebene lässt Handlungen hier fast irrelevant werden, und auf diese Weise kommt es zur Enthaltsamkeit. Das bedeutet nicht, dass du sagen sollst: „Oh, wenn es geschieht, lass es geschehen, lass mich jetzt gerade zügellos sein.“ Nein!
Eine Professorin aus dem Nahen Osten sagte etwas sehr Interessantes. Sie sagte, jede Körperflüssigkeit sei mit der Gehirnflüssigkeit verbunden, und jeder Flüssigkeitsverlust im Körper bewirke einen Verlust der Gehirnflüssigkeit um 20 Prozent. Es wurden wichtige Forschungsarbeiten zu diesem Thema durchgeführt.
Deshalb sagten die Menschen früher, ein Student solle während des Studiums – wenn er mit dem Gehirn arbeiten müsse – enthaltsam leben.
In den ersten fünfundzwanzig Jahren sollte man Brahmacharya (enthaltsam) sein.
Im Alter von 25 bis 50 folgt Grihasthashram (Familienleben). Während dieser Zeit kann man die Freude und das Vergnügen des Familienlebens genießen.
Im Alter von 50 Jahren sollte man die Sexualität langsam zurückgehen lassen, denn sonst kann sie zur Obsession für einen Menschen werden.
Wenn Menschen eine solche Obsession haben, ist der Geist fiebrig, aber der Körper kann nicht mehr mithalten. Körper und Geist sollten Hand in Hand gehen. Sonst wird es zu einer Art Krankheit. Ähnlich ist es bei der Bulimie. Der Körper möchte keine Nahrung mehr, aber der Geist sorgt dafür, dass immer mehr davon in den Körper hineingestopft wird.
Und so kommt es, dass Menschen, die 70 oder 80 Jahre alt sind, sich Pornografie anschauen, obwohl sie selbst nichts tun können. Das ist der traurige Stand der Dinge. Mit Enthaltsamkeit hat das jedoch nichts zu tun. Es ist der Geist, der sich nicht in der richtigen Verfassung befindet.
Brahmacharya meint Mäßigung. Mäßigung ist Enthaltsamkeit.